Glücklich räumten Holger und Britta die letzten Flipcharts weg. Das war wirklich gut gelaufen heute! Alle haben die neue Strategie verstanden und würden sie mittragen. Und dass sogar der Volker am Ende in der Feedbackrunde sagen würde, das habe sich sehr gelohnt – das hätten sie nie zu träumen gewagt. Und was für kreative Umsetzungsideen entstanden sind! Ein Traum. Jetzt mussten sie nur noch dem knauserigen Inhaber das Konzept verkaufen und das Budget aus dem Kreuz leiern. “Machen wir eine K.U.V. – eine Kinder- und Vorstandsfolie, nä?” – “Genau, hihi.” Die beiden waren sich sicher, das würde schon klappen. Kaum waren sie aus dem Raum, hörten sie von hinten beim Materiallager ein Kichern und Glucksen. Neugierig schlichen sie heran. “Ralf, machste uns gleich noch nen Performance-Kaffee?” – “Prust! Na klar, mit PASSION!” – “Boah, ich dachte, die beiden hören heute gar nicht mehr auf zu reden.” – “Ja, in den Stunden hätte ich richtig was wegarbeiten können.”
Was hier passiert, hat einen Namen: Organisationaler Zynismus.
Woher kommt organisationaler Zynismus?
Organisationaler Zynismus beschreibt ein kollektives Verhaltensmuster, ist also kein individuelles Problem einzelner Personen: Kleine Grüppchen bis hin zu ganzen Teams blicken zynisch auf aktuelle Entwicklungen und Entscheidungen in ihrer Organisation. Er entsteht immer dann, wenn Mitarbeiter sich gezwungen sehen, ein erwünschtes Verhalten an den Tag zu legen, das nicht mit ihren eigenen Einstellungen oder der erlebten Realität übereinstimmt. Meist geht es um fehlende Glaubwürdigkeit und mangelndes Vertrauen ins Management: Mitarbeiter*innen fühlen sich entweder absichtlich getäuscht oder trauen der Chefin nicht zu, eine Problemlösung zu finden, die wirklich an der Wurzel ansetzt. Es wird aus Sicht der Mitarbeiter*innen schlicht Theater gespielt, das niemanden voran bringt.
Die Neigung zum Zynismus hat immer auch etwas mit dem Grad der Identifikation mit der Organisation zu tun: Wer mit hehren Zielen angetreten ist, etwas zu bewirken, legt sich in der Regel mächtig ins Zeug. Wird diese Selbstwirksamkeitserwartung nicht eingelöst, entsteht Frust. Das ist naturgemäß an der Unternehmensspitze weniger ausgeprägt – hier hat man das Gefühl, in jedem Fall gestalten zu können. Deshalb erwarten viele Manager*innen diese hohe Identifikation und den hohen Einsatz auch von ihren Mitarbeiter*innen. Dabei übersehen sie häufig, welchen Kontextbedingungen die Leute in der alltäglichen Arbeit ausgesetzt sind: Da sind die Arbeitsabläufe, die nicht reibungslos funktionieren – aber deren Verantwortliche im anderen Team gerade kein Ohr für die Verbesserung haben. Da sind die Kennzahlen, die erfüllt werden müssen – aber die gar nicht abbilden, was eigentlich für die Kunden das Wichtigste wäre.
Je größer die Organisation (und je hierarchischer aufgebaut), desto weniger kennt man sich im Management mit diesen Details aus. Irgendwann entsteht dann auch hier Frust: Warum, um Himmels Willen, handeln die Mitarbeitenden nicht innovativer, mutiger, freier?
Wie äußert sich organisationaler Zynismus?
Stell dir jetzt vor, wie die Geschäftsführung eines mittelständischen Unternehmens nun auf die Idee kommt, seinen Mitarbeiter*innen Innovationsgeist und Mut ans Herz zu legen und dafür ein Programm auflegt. “Du bist Braveheart!” steht jetzt plötzlich an Plakaten oder, eine Nummer kleiner: In der nächsten Mitarbeiterversammlung gibt es eine schlichte, glühende Rede. Sie handelt davon, dass man auch mal Regeln brechen dürfe, dass der Kunde im Zentrum stehe, dass neue Ideen gebraucht würden. Keine Rede ist stattdessen vom Kennzahlensystem, der Arbeitsteilung zwischen den Teams oder den Vorgaben vom Qualitätsmanagement.
Ab jetzt lässt sich organisationaler Zynismus meist in freier Wildbahn beobachten. Er kommt unterschiedlich daher:
- in Form sarkastischer Witze
- als verstummende Gespräche
- als Augenrollen in Meetings
- in Form von ein paar Kollegen, die sich verschwörerisch zuzwinkern
- in Form von dringendem Tuschelbedarf direkt nach jedem Meeting
Wie kann man dem vorbeugen?
Zunächst mal ist hier wichtig: Als Führungskraft oder gar Inhaber*in der Organisation läuft man immer Gefahr, einem blinden Fleck zu unterliegen. Es kann also gut sein, dass du nicht unbedingt merkst, wo es beispielsweise aus Mitarbeitersicht Fremdscham-Potenzial gibt. Dennoch gibt es ein paar Dinge, die jede Führungskraft grundsätzlich tun kann:
- Vorbild sein als Führungskraft:
Das hast du sicher schon drölfzig Mal gehört – es klingt fast trivial, ist allerdings nicht zu unterschätzen: Dinge offen ansprechen, das sagen, was man meint, offensichtliches nicht einfach wegwischen, sondern sich ernsthaft mit Argumenten auseinandersetzen, das sind die Zutaten für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Es geht darum, eine Atmosphäre zu schaffen, in der offen Kritik an Vorschlägen – gerade auch gegenüber der Führungskraft – geübt werden kann.
- Mehr erklären, weniger verkaufen:
Das schließt sich direkt daran an. Wer offen für Lösungen ist, muss nicht vorgeben, wie etwas auszulegen ist. Es passiert täglich in vielen Organisationen, dass bestimmte Begriffe tabuisiert werden (“Ich habe keinen Konflikt mit dem Meier, also bitte!”) oder dass ständig wiederholt wird, welche guten Absichten hinter einer Idee stecken.
- Worte & Taten in Einklang bringen:
Weniger versprechen, mehr umsetzen. Wenn du beispielsweise neu in der Führungsrolle bist: Versprich lieber weniger und setze zunächst die ersten Dinge um. Gehe Missstände ernsthaft an, vor allem – wenn nötig – auch auf übergeordneter Ebene. Kämpfe für gute Lösungen!
- Möglichst wenig Worthülsen und Buzzwords verwenden:
Hierunter kann jede*r etwas anderes verstehen, was das Potenzial erhöht, dass niemand wirklich in die Umsetzung kommt. Dadurch wächst die Diskrepanz zwischen Wort und Tat weiter.
- Nicht selbst über die eigenen Vorgesetzten oder über andere Abteilungen oder den Auftraggeber lästern:
Es ist verlockend – siehe ganz oben die Kinder- und Vorstandsfolie – sich auch mal zu beömmeln über Dinge, die man vielleicht nicht ändern kann. Das ist für den Moment auch sehr authentisch – auf lange Sicht aber wird es immer schwieriger, sich davon wieder zu lösen.
- Schwächen eingestehen und offen drüber reden, wenn man als FK mal keine Lösung hat:
Fast jede Führungskraft kommt einmal an den Punkt, wo etwas nicht klappt oder sie gegen Wände läuft. Widerstehe dem Drang, dir “nur keine Blöße zu geben”! Sprich offen darüber, was nicht geklappt hat und was du jetzt als nächstes tust. Das ist viel glaubwürdiger als auszuweichen oder etwas kaschieren zu wollen.
- Schein-Partizipation vermeiden, sondern ehrlich einbinden:
Wenn du dich entscheidest, dein Team in eine Entscheidung einzubeziehen, dann sei klar darin, was du akzeptieren kannst. Es ist ein Unterschied, ob ihr gemeinsam die Entscheidung trefft oder ob du dir zwar Meinungen einholen, aber am Ende allein entscheiden möchtest. Manchmal kann es auch klüger sein, das Team bewusst nicht einzubinden.
Und wenn der Zynismus schon da ist, wie geht man als Führungskraft am besten damit um?
Zunächst einmal: Mach dir klar, dass es sich hier um eine Art Selbstschutzmechanismus handelt. Wenn die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit für einen Mitarbeiter zu groß wird, hilft es, sich zu distanzieren. Humor, Sarkasmus und eine Prise Gehässigkeit sind da ein prima Ventil. Das heißt allerdings nicht, dass du es einfach hinnehmen musst.
Ganz im Gegenteil! Sollte dir organisationaler Zynismus begegnen:
- Überlege dir, was es ausgelöst haben könnte. Wünscht du dir vielleicht eine hohe Identifikation und hast versucht, diese irgendwie von deinen Leuten einzufordern? Gab es dabei vielleicht etwas, das als albern oder spleenig empfunden werden könnte?
- Suche das Gespräch. Sag offen, dass dir das auffällt, dass es dich zum Grübeln bringt. Sprich aus, was du dir stattdessen wünscht.
- Widerstehe dem Drang nach Verbrüderung oder Verschwesterung nach dem Motto “unser Team gegen die da oben/die da drüben”. Hier lauert eine böse Falle, denn ein gemeinsamer Feind stärkt zwar die Gruppenkohäsion, aber die so zusammengeschweißte Gruppe isoliert sich zunehmend und wird dann noch weniger handlungsfähig.
- Nimm auch nonverbale Signale wie Sprüche und Augenrollen nicht einfach hin. Auch wenn du es natürlich nicht verbieten, sondern höchstens in die Kaffeeküche verbannen kannst: Je behutsamer du es ansprichst, desto eher könnt ihr es lösen.
Und was können Teammitglieder tun, wenn die eigenen Kolleg*innen aus dem Zynismus nicht mehr rauskommen?
Hier sind wir beim schwierigsten Punkt angekommen. Falls eure Führungskraft (wenn ihr eine habt) nicht interveniert oder es nicht merkt, kannst du versuchen, es im Team zu lösen. Gibt es noch weitere Kolleg*innen, die nicht mitlästern oder bist du die/der Einzige? Als Einzige/r was dazu zu sagen, erfordert meistens Mut: Wenn der Zynismus schon länger etabliert ist, dann meist auch deshalb, weil es Meinungsführer gibt, die hier kommentieren. Spricht man das an, macht man sich schnell einer Streber-Attitüde verdächtig. So isoliert man sich möglicherweise vom Rest des Teams. Wer trotzdem weder milde mitlächeln oder vereinsamen will, kann es mit Einzelgesprächen versuchen. Frag die Meinungsführer, ob es “hier immer schon so war” und ob es nicht doch irgendetwas gibt, das sich verbessern lässt. Und parallel: Sprich Dinge, die verbessert gehören, offen in euren Teamsitzungen an und zeig, dass es sich lohnt, sich einzusetzen. (Und sei nicht entmutigt, wenn die Anderen nur darauf warten, dass auch du mit deinen Bemühungen scheiterst. Eine Opferhaltung einnehmen und es sich im Zynismus gemütlich machen kann schließlich jede*r.)
Wo finde ich noch mehr zu diesem Thema?
Prof. Dr. Jan Schilling hat sich eingehend aus psychologischer Perspektive mit dem Thema befasst. Eine stärker systemtheoretische Sichtweise findet sich bei diesem Metaplan-Artikel.
26. September 2023, 20:00