Neulich hat Ute an einem Führungstraining teilgenommen, um unter anderem an ihrem Konfliktverhalten zu arbeiten. Vorab musste sie der Verknüpfung mit ihrer Smartwatch zustimmen und hat sich nichts weiter dabei gedacht. Kurz hat sie sich mal gefragt, warum ihre Mitarbeiter*innen jetzt auch alle plötzlich Smartwatches tragen, aber dann war da die nächste Deadline und der Ärger mit Olaf und schon war der Gedanke wieder verflogen. Dass ihre Leute also auch irgendwo eingewilligt haben, fiel ihr nicht auf. Die Cortisolprobenentnahme während des Trainings war so geschickt als Serious Game verpackt, dass alle mitgemacht haben – auch Ute natürlich. Im Training hat Ute sich ausgiebig persönliche Ziele gesetzt. Aus “Im Teammeeting nicht mehr ausrasten” hat sie “alle zu Wort kommen lassen, erstmal zuhören, ruhig bleiben” gemacht, weil das Tool sie zwang, ihre Ziele positiv zu formulieren. Nach einem intensiven, tollen Training kommt sie nach Hause und da ist schon ein Brief ohne Absender im Briefkasten. “Du schaffst das. Tsakkaa!” steht darin. Der nächste Arbeitstag ist direkt voll mit Terminen. Im Teammeeting geht Utes Puls hoch, kurz darauf steigt auch der Gruppenpuls ihrer Mitarbeiter*innen. Das weiß Ute, weil die HR-Abteilung genau 30 Sekunden später mit einem Tablet hereinkommt, auf dem das abgebildet ist. Stimmt, denkt sie, ich hatte ja angeklickt, dass ich durch “soziale Kontrolle” an meine Ziele und deren Erreichungsgrade erinnert werden will. Sofort machen sie gemeinsam im Team Atemübungen und legen detailliertere Spielregeln für die nächsten Meetings fest. Das Team lobt Ute für ihre transparente Herangehensweise und um ihre Autorität nicht völlig zu untergraben lobt Ute die Leute zurück für ihre Offenheit und aktive Mitarbeit.
So sieht der perfekte “Transfer des Gelernten in die Praxis” aus, oder etwa nicht? Und wenn das ein kleines bisschen übertrieben ist, wie muss er dann aussehen, der perfekte Praxistransfer im Kontext von Trainings und anderen Weiterbildungsformaten?
Was verstehen wir eigentlich unter “Praxistransfer”?
Vereinfacht gesagt geht es darum, nach dem Besuch eines Trainings und Fortbildungen ins Tun zu kommen – und zwar in Richtung Verhaltensänderung. Idealerweise, um gewünschte Ziele zu erreichen. Es wurde also Wissen dazu erworben, wie das geht und bestenfalls auch schon praktisch im Training ausprobiert. Nun steht also im Fokus, das frisch Gelernte in den (Arbeits-)Alltag zu integrieren. Das funktioniert am besten, wenn
- man selber etwas verändern will, also den eigenen Wunsch hat
- das Umfeld diese Veränderung fördert
- die Veränderung als Vorteil erlebt wird.
Du siehst, es geht also nicht nur um die eigene Veränderungsmotivation, sondern auch um Kontextbedingungen.
Was Trainer*innen alles für den Praxistransfer tun
Häufig wird eine ganze Menge veranstaltet, um “transfertaugliche” Trainingsangebote zu bieten:
- Lerntagebücher, um persönliche Ziele setzen und nachhalten zu können
- das Verwickeln der Gruppe in künstliche Aufgabenstellungen (zum Beispiel irgendwelche kniffeligen Transfer-Projekte, die zwar ähnliche, aber eben nicht die wirklichen Herausforderungen mitbringen)
- Nudging (also das kleine Anstupsen in Richtung Ziel durch Mini-Impulse nach dem Training)
- Peer to peer-Learning/ Buddy-Prinzip oder Austausch-Treffen(also das Vertiefen & Reflektieren in kleinen Lernzirkeln)
- kollegiale Beratung als Methode, um selbstorganisiert im fachlichen Austausch zu bleiben
- Foren, Facebookgruppen
- extra Coachingkontingente, um eigene, individuelle Fragestellungen vertiefen zu können
- Erinnerungsmethoden wie z.B. den Brief an dich selbst aus der Zukunft
- Kreative Dokumentationen (vom Podcast bis zum animierten Protokoll mit Video- & Vertiefungsinhalten)
Das ist nur ein Auszug an tollen Möglichkeiten, die Teilnehmenden helfen können, in die Umsetzung zu kommen. Und doch können sie das zu Grunde liegende Problem oft nicht lösen, denn die Gründe für ausbleibenden Transfer liegen oft woanders…
Welche Gründe häufig den Praxistransfer erschweren
Was führt dazu, dass jemand ein Training besucht, um anschließend nichts oder nur wenig davon im Arbeitsalltag umzusetzen? Hier sind fünf häufige Gründe für dieses Phänomen:
- Der/die Teilnehmer*in ist nicht wirklich freiwillig dort.
Egal ob es sich um einen Arbeitssicherheitskurs oder ein Zeitmanagement-Seminar handelt – häufig werden Teilnehmende von ihren Führungskräftenüberredetüberzeugt, ein solches Angebot wahrzunehmen. Dieser Überzeugungsprozess ist übrigens oft nicht so schlicht, wie sich jetzt vielleicht liest: Herrscht zum Beispiel eine zu große Arbeitslast und die Suche nach Lösungen gestaltet sich schwierig, passiert es schnell, dass Führungskräfte wohlmeinend zu Trainingsmaßnahmen wie “Zeitmanagement” greifen. Diese dann abzulehnen, weil man sie nicht brauche, erfordert Standhaftigkeit. Wer will sich schon verdächtig machen, nicht auch an sich selbst arbeiten zu wollen! Und so geht man eben konsumierend ins Training für Selbst- & Zeitmanagement, denn “irgendwas nimmt man ja immer mit” und “schaden kann es ja nicht”. Vielleicht. - Es herrscht im Training keine ausreichende psychologische Sicherheit.
Am meisten nehmen wir aus Trainings in unseren Alltag mit, wenn wir die Gelegenheit bekommen, an unseren ganz eigenen Problemen zu arbeiten. Dafür braucht es allerdings eine Umgebung, in der wir uns problemlos öffnen können, die wohlwollend und sensibel für Vertrauliches ist. Ob sie das für die Einzelnen ist, ist sehr individuell und lässt sich von außen nicht immer erkennen. Für die einen ist die Abteilungsleiterin, die beteuert “dass bei uns alle sehr offen sind und mich sicher gerne im Training dabeihaben” gar kein Problem – für andere schon. Manch einer liebt den heißen Stuhl in Verbindung mit kritischem Feedback als tolle Lernchance – manch andere fürchtet sich davor. Was auch immer die psychologische Sicherheit schmälert, es sorgt zuverlässig dafür, nicht allzu viel von sich preiszugeben. - Die Teilnehmer*innen haben einfach gerade kein konkretes Problem, das sie mit Hilfe des Trainings lösen wollen.
Das ist zum Beispiel manchmal der Fall, wenn ein einzelnes Trainingsmodul Teil eines umfangreicheren Programmes ist. Dann ist “Verhandeln für Pro’s” vielleicht einfach mit drin, auch wenn Jörg und Ute gerade weit und breit nichts zu verhandeln haben. - Die Arbeitsumgebung unterstützt “das Neue” gar nicht.
Ja, das gibt’s wirklich! Da kommen Leute aus einem Softwaretraining – und es ist trotzdem klar, dass sie weiterhin die technisch kompetente Kollegin fragen werden, wenn sie nicht weiterkommen. Oder es werden Führungskräfte in New Work-Veranstaltungen geschickt, um dann anschließend wieder in ihrem Old Work Kontext zu arbeiten. Woran das liegt? Meist an den Entscheidungen im Hintergrund: Ist das Programm zum Beispiel ganz allein im HR-Bereich erdacht worden und wurde nicht mit der Arbeitskultur in der Praxis abgeglichen, kann es seine Wirkung nicht gut entfalten (oder produziert im schlechtesten Fall sogar Zynismus). -
Der Trainer/die Trainerin arbeitet nur an der Oberfläche.
Zwölf Themen in 4 Stunden, zackzack: Wo zuviel hereingestopft werden muss, kann wenig vertieft werden. Vertiefen mit Blick auf einen hohen Nutzwert für die individuelle Praxis, das heißt:
- prozessorientiert arbeiten, nicht nur zielorientiert (zum Beispiel durch Praxissimulationen tief in eine Situation eintauchen und schauen, wo genau der Hase im Pfeffer liegt)
- Dinge auch mehrmals wiederholen und anpassen können (also iterativ lernen)
- immer wieder den Lernzyklus bei einem Thema durchlaufen zu können
- manchmal auch da hinzugehen, wo’s wehtut (zum Beispiel durch einen Moment des Scheiterns oder der Begegnung mit der eigenen Wirkung)
All das funktioniert nicht, wenn zum Beispiel zu behandelnde Themen vorgegeben werden und kein Austausch darüber stattfindet, was wirklich reinpasst in x Stunden Trainingszeit. Ebenso schwierig wird es, wenn die Trainerperson selbst nicht vertiefen kann oder will: Weil nicht genug Expertise da ist, weil sie den Schmerz den Teilnehmer*innen nicht zumuten will, weil sie nur am “Gefallen” des Trainings gemessen wird statt an der Wirksamkeit.
Was für Teilnehmer*innen gilt, gilt auch für Trainer*innen: Der Kontext beeinflusst das Verhalten mit. Natürlich gibt es inkompetente Trainer*innen genauso wie unmotivierte Teilnehmer*innen. Das Drumherum beeinflusst allerdings maßgeblich, ob und wie gelernt und umgesetzt werden kann.
Wann Trainings übergriffig werden
Stell dir nun einmal vor, du wärst hoffnungslos überlastet, weil euch mehrere Kolleg*innen weggebrochen sind. Die Stellen wurden wegen Kostendruck™ nicht nachbesetzt und ihr müsst im Team jetzt irgendwie mehr schaffen mit weniger Zeit. “Einfach wegdigitalisieren, was nervt” hat die Geschäftsführung gesagt, “Vorsicht mit der DSGvO” raunte der Datensicherheitsbeauftragte dir zu, “bitte auch die Projektaufwände genauer erfassen” kam von der anderen Seite. Mitten in diese Gemengelage fällt dein Mitarbeiterjahrzehntgespräch mit deiner Chefin, in der du von deiner persönlichen Überlastung sprichst. Am Ende steht die Empfehlung, an einem Zeitmanagement-Training teilzunehmen, verbunden mit einem aufmunternden Streicheln deiner linken Schulter. Und jetzt stell dir vor, du hast es irgendwie geschafft, dir einen ganzen Tag (oder mehr) freizuschaufeln für dieses Training und erlebst, dass du
- über dein Privatleben reden sollst
- dir berufliche und private Ziele setzen und diese in der Gruppe teilen sollst
- dir einen Lernpartner aussuchen und dich mit diesem mehrmals verabreden sollst
- ein Tagebuch erhältst, um deine Lernziele nachzuverfolgen
- dein Ziel auf einer Skala von 1 bis 10 einordnen und deinen Fortschritt entsprechend erfassen sollst
- keine Möglichkeit bekommst, über die anderen Hebel zur Verbesserung deiner Situation zu sprechen, sondern “jeder bei sich anfangen” soll
Was glaubst du, wie würdest du das finden? Wie offen wärst du für dieses Training? Was würde es dir bringen?
Wie kommt man nun aber heraus aus diesem Schlamassel?
Neben den ganzen methodischen Kniffen, mehr aus einem Training herauszuholen, habe ich mit diesen Ansätzen gute Erfahrungen gemacht:
- Hinterfragen, ob es wirklich ein Training braucht.
Manchmal stellt sich schon im Gespräch heraus, dass ein Training gar nicht das richtige Mittel ist, um etwas zu erreichen. Dann können wir andere Herangehensweisen überlegen. - Die Teilnehmer*innen einbeziehen – im Gespräch oder per Fragebogen.
Manchmal gibt es keine Möglichkeit der gründlichen Klärung, etwa weil Trainings einfach irgendwo gebucht werden und ich für den Anbieter tätig bin. Dann hilft manchmal eine Vorab-Abfrage, bei der ich etwas mehr zum Hintergrund und zu den Herausforderungen oder auch schon zu Zielen der Teilnehmenden erfahre. So kann ich das Training besser auf die Bedürfnisse zuschneiden. - Das Training inhaltlich entrümpeln.
Wie schon oben erwähnt: Eine praxisorientierte Lernerfahrung braucht ausreichend Raum und Zeit. Alles, was nicht auf die Lernziele einzahlt, empfehle ich rauszunehmen – mit Ausnahme der Aufwärm-Elemente, die es braucht um eine Gruppe von Menschen arbeitsfähig zu machen und psychologische Sicherheit zu fördern. - BlendedLearning und den Flipped Classroom nutzen.
Präsenzzeiten sind teuer, aufwändig und wertvoll. Nutzen wir sie also am besten für die praktische Erfahrung, den Austausch, das gegenseitige Feedback und die Reflexion von Erlebtem aus verschiedenen Perspektiven. Verschwenden wir sie besser nicht für reine Wissensvermittlung in Form von Vorträgen oder ähnlichem. Manche Inhalte lassen sich besser online und asynchron – also z.B. als Video-e-Learning – vermitteln. So können die Teilnehmer*innen das konsumieren, was sie interessiert – in den Präsenz- oder Live-Online-Treffen wird dann darauf aufgebaut. Das ist individueller UND effizienter.
Was tust du, um Weiterbildungen praktisch nutzbar zu machen?
Egal, ob in der Teilnehmer- oder Trainierenden-Rolle: Ich freue mich, wenn wir die Liste noch erweitern können!
1. Oktober 2023, 06:38
Ich möchte mich ganz herzlich für den Artikel bedanken. Ich bin selbst ein großer Freund des Praxistransfers und für mich waren einige Aspekte neu. Auch der Praxistransfer steckt voller Fallen