Laura war eine sehr engagierte junge Führungskraft. Bis spät in die Nacht saß sie oft noch am Rechner mit ihrer Excel-Liste, in der sie die Schichtwünsche aller Teammitglieder gesammelt und eine möglichst faire Verteilung ausgeklügelt hatte. Fairness war ihr sehr wichtig, deshalb durfte sie auch jeder im Team abends noch anrufen und die eigenen Wünsche ausführlich begründen. Mit manchen telefonierte sie länger, mit manchen kürzer. Einige Wünsche fand sie frech bis unverschämt – und ab und an rutschte ihr das auch im Gespräch mit den Näherstehenden heraus. Laura war ganz klassisch zum Gatekeeper geworden: Wer etwas im Team klären wollte, kam nicht an ihr vorbei.
Bei Uwe lag der Fall nur auf den ersten Blick anders: Als Director in einem größeren mittelständischen Unternehmen lag auch die Budgetplanung in seiner Verantwortung. Regelmäßig holte er dazu alle geplanten Projekte von seinen Abteilungsleiter*innen ein – aufgrund der vielen Details natürlich in seinen 1:1 “JourFixe”-Terminen. Die besondere Herausforderung für ihn lag darin, die strategisch relevanten Themen unterzubekommen und dabei 10% unter dem Budget vom Vorjahr zu landen (und damit den eigenen Jahresbonus zu sichern) – ohne dabei seine besten Mitarbeiter*innen zu vergraulen. Auch Uwe war ein klassischer Gatekeeper: Von seinem persönlichen Fingerspitzengefühl hing es ab, welche Projekte mit Nachdruck vorangetrieben werden konnten.
Was ist ein Gatekeeper?
Ein Gatekeeper, also ein “Torwächter”, ist jemand (oder etwas), der (oder das) eine strategische Position in einem Entscheidungsfindungsprozess einnimmt. Diese Personen haben zum Beispiel exklusiven Zugang zu bestimmten Netzwerken und zentrieren Macht in Form von Informationen oder Ressourcen bei sich. Es gibt sie in verschiedensten Kontexten, zum Beispiel in der öffentlichen Meinungsbildung: Hier hatten lange Zeit die Journalist*innen die Hoheit darüber, welche Informationen als relevant für die breite Masse gelten konnten. Mit dem Durchbruch der SocialMedia Plattformen veränderte sich das. Plötzlich bekommen Perspektiven eine Stimme, die bisher nicht wahrgenommen wurden und ringen mit wiederum anderen Gruppierungen um Deutungshoheit.
Und diese Entwicklung können wir auch in Organisationen beobachten: Während Laura noch Schichtwünsche sammelt, gibt es im nächsten Team längst ein gemeinsames Tool, das diese Wünsche transparent erfassbar und einsehbar macht – und jede*r kann kommentieren. Und wo Uwe noch Projekt-Cases vergleicht, arbeiten andere Organisationen längst mit OKR.
Wie entsteht das Gatekeeper-Phänomen? Welche Motive haben Führungskräfte fürs Gatekeeping?
Natürlich gibt es sie: Die machthungrigen Führungskräfte, die sich aus mikropolitischen Erwägungen heraus gerne unersetzlich machen. Die Extravertierten und gern Beliebten, die Führungskraft geworden sind, weil sie so gern mit anderen Menschen in Verbindung sind. Abseits dieser charakterbedingten Motive gibt es allerdings noch weitere Gründe, warum Führungskräfte zu Gatekeepern werden. Diese sind gleichzeitig die meist genannten Gründe, die mir begegnen, wenn ich sie nach dem Warum frage:
- Sie wollen allen Zeit sparen, indem sie Informationen bündeln.
Diese eher serviceorientierte Haltung ist ein häufiger Grund – sogar dort, wo Führungskräfte sich als Servant Leader verstehen.
- Sie möchten Verantwortungsdiffusion vermeiden.
Wenn zum Beispiel aktuelle Probleme gemeinsam im Team diskutiert und gelöst werden sollen, dauert das erst einmal länger. Häufig ist dann auch nicht sofort klar, ob und wer jetzt den berühmten Hut für die nächsten Schritte auf hat.
- Sie wünschen sich Effizienz und haben den Eindruck, die Bedienung eines neuen Tools lenke vom Wesentlichen ab.
Hiermit habe ich es seit knapp 20 Jahren zu tun: Bevor wir uns für diese kleine Situation jetzt überlegen, wie wir das digital abbilden, machen wir es eben schnell zu Fuß. So bleibt man dann vor lauter Pragmatismus Jahr um Jahr analog.
- Sie sehen sich in der Verantwortung, den Prozess zu kontrollieren und sorgen sich, dass diese Kontrolle abhanden kommen kann.
Dieses Motiv ist tückisch, denn es hat häufig auch mit Erwartungen zu tun, die wiederum an die Führungskräfte gestellt werden. Wenn man jederzeit auskunftsfähig sein soll, liegt es nahe, die Kommunikation bei sich zu bündeln.
Welche Probleme handelt man sich mit dem Gatekeeping ein?
Bei allen nachvollziehbaren Motiven: Langfristig bekommen die meisten irgendwann Probleme.
- Als erstes ist da der innewohnende Paternalismus: “Meine Leute sind noch nicht so weit, also übernehme ich das.” Durch diese Bevormundung entsteht erlernte Hilflosigkeit.
- Daraus wird schnell eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Die Leute lernen dann auch nicht, zum Beispiel Konflikte im Team zu klären, Verteilungs- oder Zielkonflikte zu lösen, ein Thema “end-to-end” zu verantworten. Sie fragen dann irgendwann sehr schnell nach der Führung – womit sie die Notwendigkeit der engen Führung weiter bestätigen. Ein feiner Teufelskreis.
- Und schwupps – schleicht sich ein massives Zeitproblem, bedingt durch sehr viel synchrone Kommunikation, ein. Die Führungskraft wird allmählich zum Flaschenhals.
- Langfristig macht sich die Führungskraft so unentbehrlich, dass die eigene Führungsrolle nicht skalierbar ist – sie beraubt sich also entweder der eigenen Aufstiegsmöglichkeiten oder muss sich ein Schneeballsystem aufbauen, das unter denselben Mechanismen ächzen wird. (Viele bedauern das spätestens dann und führen nun – mit dem neuen Blick von oben – ganz viele Regelungen und Prozesse ein.)
Wie entkommt man dem Phänomen?
- Widerstehe der Versuchung, erstmal “pragmatisch” so weiterzumachen, weil eine transparentere Lösung zu Beginn Aufwand verursacht: Überlegt lieber kurz, wie die aktuellste Aufgabe einfacher gelöst werden kann. In unserem Beispiel von Laura wäre das vielleicht ein google spreadsheet, in dem jede*r direkt sehen kann, welche Schichten abgedeckt werden müssen und wieviele freie Tage es maximal gibt. Alle tragen dort ein und können kommentieren – erst wenn sich nicht geeinigt werden kann, greift jemand moderierend ein.
- Probiert alternative Entscheidungsverfahren aus, um damit das Team zu unterstützen. Integrative Entscheidungsfindung bedeutet nicht, dass alles basisdemokratisch entschieden wird – es gibt andere, effizientere Verfahren!
- Vernetze gezielt Menschen miteinander. Bevor du (dich) fragst, wie etwas geht – frag lieber, wer an der Stelle wem helfen kann. (Das war für mich als introvertierte Führungskraft der schwierigste Punkt: Nicht selbst knobeln, sondern schnell die Verbindung suchen.)
- Teilt möglichst viele Informationen offen. Stellt den Kontext nicht in Einzelgesprächen, sondern gemeinsam her: Wie wurde diese Information gewonnen? Wie wird diese Kennzahl berechnet? Was bedeutet dieses Risiko für den weiteren Verlauf? Solche Fragen sind für alle relevant.
- Arbeitet mit einem Kanban-Board: So treten die Zusammenhänge zwischen den Teammitgliedern deutlicher hervor und die Arbeit “verschränkt” sich miteinander.
Wie ist das bei euch? Gibt es die Gatekeeper noch oder ist das gar kein Thema (mehr)? Schreib mir gern einen Kommentar!