Wer sich mit Führung im Kontext von Agilität und Selbstorganisation beschäftigt, kommt am Konzept des „Servant Leadership“ – was soviel heißt wie „dienende Führung“ – nicht vorbei. Warum diese Rolle dennoch nicht mit einem Feelgood Manager zu verwechseln ist und wie so etwas praktisch aussehen kann, habe ich Claudia Landmesser von Thalia gefragt.
Claudia ist bei Thalia in Münster für ein Team von insgesamt 13 Entwickler*Innen und Analyst*Innen verantwortlich, die wiederum in verschiedenen Produktteams die Thalia eCommerce-Landschaft weiterentwickeln.
Damit diese Weiterentwicklungen auf Dauer schneller zu den Kunden gelangen, wurde der Bereich vor einigen Jahren agil umgebaut: Aus unterschiedlichsten Kompetenzen zusammengesetzte Teams kümmern sich seitdem schwerpunktmäßig um einzelne Kern-Features – selbstorganisiert und mit agilen Vorgehensmodellen arbeitend. Daraus ergibt sich, dass sich einige klassische Teamleitungsaufgaben verändern oder gar obsolet werden. Wie geht man damit um, wenn man als Führungskraft selbst betroffen ist? Also fragte ich eine, die es wissen muss und die ich obendrein als sehr reflektiert kennen und schätzen gelernt habe: Claudia Landmesser.
Claudia, es ist ja jetzt schon einige Zeit her, dass ihr in Münster rund um den Webshop die Organisation zu einer Produktorganisation umgebaut habt. Das hat die Zusammenarbeit in den Teams ziemlich verändert. Wie kam es dazu, dass du auch deine Art der Führung verändert hast?
Ich glaube der Schlüsselpunkt war, dass ich mit anderen Kollegen zusammen zu einem sehr, sehr frühen Zeitpunkt in diese Umstrukturierung eingebunden war. Den richtigen Startpunkt definiert für mich eine Veranstaltung, die wir damals mit ungefähr hundertzwanzig Leuten gemacht haben, um allen zu erklären, was wir da eigentlich vorhaben.
Aber für mich und meine Kollegen ging es viel früher los: Wir haben vor dieser Veranstaltung ungefähr ein Jahr gebraucht, um das Ganze vorzubereiten. Und in diesem Jahr ist ganz, ganz viel passiert – auch bei mir persönlich: Ich konnte mir Gedanken darüber machen, was eigentlich künftig meine Rolle ist. Ich wurde also nicht nur informiert, sondern habe das aktiv mitgestaltet. Das ist etwas, das ich auch rückblickend als Riesenvorteil empfinde. Meine Kollegen (in ähnlichen Rollen) und ich haben uns also rund um die Kickoff-Veranstaltung gemeinsam hingesetzt und haben einmal unsere Rollen beschrieben: Für unsere Teams, aber auch für andere – Stakeholder möchte ich sie jetzt mal nennen – also andere Leute, die bisher auch ‘ne Erwartungshaltung an uns hatten.
Erzähl’ doch bitte noch mal kurz, in welchen Rollen du vorher unterwegs warst.
Ich hab bei Thalia in der IT im e-Commerce-Bereich begonnen und hab da, bevor ich in so ‘ne Teammanager-Rolle gewechselt bin, verschiedene Rollen wahrgenommen. Ich habe als Analyst gearbeitet; ich habe als (Teil-)Projektleiter gearbeitet. Ich habe als Manager gearbeitet, im Tagesgeschäft … – also ich hatte sehr viele unterschiedliche Aufgaben inne. Dann bin ich irgendwann, ungefähr anderthalb Jahre vor unseren ersten Produktorga-Gedanken, in eine Team Manager-Rolle gewechselt. Das war im Grunde so eine Zwitter-Position: Keine disziplinarische Verantwortung, sondern eine fachliche Verantwortung für die Kunden- und Auftragsprozesse.
Wir hatten dann ein größeres Team an Softwareentwicklern und Analysten, die sich darum gekümmert haben, und ich habe als Team Manager halt die organisatorische und fachliche Führung des Team übernommen. Das hatte viel mit Priorisierung und Planung, mit Kapazitäten und Ressourcen zu tun. Ich habe aber in der ganzen Zeit parallel weiterhin auch als Analyst gearbeitet oder in Projekten auch wirklich fachlich an den Themen.
Damit war ich für die Leute in dem Team – das ist jetzt ein bisschen komisch, dass ich das selber sage, aber ich vermute dass es so war – eher eine Kollegin als eine Vorgesetzte oder Chefin, weil es wie gesagt auch ganz klar eine andere disziplinarische Zuordnung gab.
Und dann ging es mit der Produktorganisation los…
Genau – als wir dann mit der Produktorga gestartet sind haben wir in dem Zuge auch unsere Aufbauorganisation ein bisschen verändert, was dazu geführt hat dass ich dann eine andere Rolle bekommen habe und auch ne andere Bezeichnung: Wir haben das dann Teamleiter statt Team Manager genannt und letztendlich ist eine sehr große Veränderung dann gewesen dass eben die disziplinarische Verantwortung für das
Team von Software Entwicklern und Analysten, die ich vorher fachlich und organisatorisch betreut habe, mit dazu gekommen ist.
So und in dem Zuge haben wir dann begonnen die Teams zusammenzustellen: Wir mussten also gucken, wer sind die Leute die jetzt in diesem Produkt-Teams arbeiten.
Und da ist mir sehr schnell klar geworden, dass ich auf einmal in keinem dieser Teams mehr auftauchen werde.
Oha. Wie war das für dich?
Da waren erstmal mehrere Erkenntnisse. Erstens: Ich werde nicht mehr das tun was ich bisher total gerne gemacht habe, nämlich an operativen Themen arbeiten. Als Analyst zu arbeiten, als fachliche Projektleitung auch zu arbeiten – das kann ich auf einmal nicht mehr tun. Und da habe ich auch eine Zeit lang gebraucht, das für mich so klar zu bekommen.
Dann die Sache mit der disziplinarischen Führung – was auch in meiner Konstellation dann so ein bisschen schräg war, weil: Das waren vorher Kollegen und jetzt waren’s meine Mitarbeiter.
Und dann das Thema, sich mit dem Begriff des Servant Leadership zu beschäftigen, nämlich: Was bedeutet eigentlich meine Rolle jetzt neu in diesem ganzen Konstrukt der Produktorganisation?
Also das waren so drei Themen die mich von Anfang an begleitet haben und die mir mehr oder weniger stark ins Bewusstsein gekommen sind, als wir damals mit der Produktorga begonnen haben.
Das heißt auch, es gab nicht irgendwie einen Zwischenschritt – dass du quasi erst mal eine klassische Führungskraft geworden bist, sondern es war direkt der Wechsel wo du zwar disziplinarisch die Aufgabe bekamst aber gleichzeitig auch schauen musstest, in welcher Rolle wollen wir das eigentlich hier gestalten?
Absolut, also das ist praktisch Hand in Hand gegangen. Ich würde jetzt auch im Nachgang nicht sagen, dass es irgendwie negativ war, dass das so gelaufen ist. Ich glaub es hat mich mehr oder weniger direkt dazu gezwungen mich mit meiner Rolle zu beschäftigen und eben nicht wieder direkt in so eine Zwitter-Rolle reinzugehen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich mit einem langjährigen Kollegen zusammen saß und wir haben überlegt, wie wir die Teams schneiden und welche Leute da gut reinpassen und gut miteinander interagieren würden. Und da hatte ich dann so am Anfang die Idee: „Ich mit meinem Analysten Know-how gehe dann auch in eines der Teams rein und arbeite da halt mit.“ Der Kollege hat mich nur angeguckt und hat gesagt “Claudia, das wird nicht funktionieren .” Ich hab das im ersten Moment noch nicht so richtig glauben wollen, aber er hatte leider Recht – es hat tatsächlich nicht funktioniert. Und heute weiß ich, es hätte auch gar nicht funktionieren dürfen.
Warum?
Was wir in der Produktorga ja mit der Teamleiter-Rolle auch machen ist, dass wir sie praktisch aus dem operativen Bereich und damit aus der operativen Arbeit der Teams heraushalten und dass die Teams sich selbst organisieren. Zudem wäre das auch ein zeitlicher Konflikt gewesen: Denn je nachdem, wie man natürlich ‘ne Ablauf- und Aufbauorganisation gestaltet, ist es halt auch eine tagesfüllende Aufgabe, in so einem Bereich unterwegs zu sein.
Wie sieht denn so eine typische Woche bei dir aus?
Das kann ich gut anhand meines Kalenders nachvollziehen. Wir haben hier bei uns eine relativ große Transparenz auch über unsere Outlook-Kalender, das heißt: Viele Leute können bei mir den Kalender gucken und auch sehen was ich so die ganze Woche mache und die, die ein bisschen genauer hingucken, werden dann auch erkennen, dass ich bestimmte Tätigkeiten oder Termine mit Farben hinterlege. Ich habe zum Beispiel Farben für bestimmte Termine, wo es um das Thema Agilität geht innerhalb der Teams oder allgemein. Ich habe Farben für Gespräche mit meinen Leuten – also Team- oder Einzelgespräche. Ich habe Farben für bestimmte Projekte in denen ich ein gewisses Knowhow mit reinbringe, und daran kann ich immer ganz gut meine Woche reflektieren: In der Regel guck ich mir freitags mal an, wie meine kommende Woche aussieht oder was ich die vergangene Woche gemacht habe. Und es ist in der Tat so, dass ich relativ viel Zeit für die beiden ersten Bereiche aufbringe – und das auch für eine extrem sinnvoll eingesetzte Zeit halte. Dazu gehören oft individuelle Gespräche, aber ich schaue auch, dass ich an Team-Terminen teilnehme. Letzeres im Moment leider nicht ganz so intensiv, wie ich mir das wünschen würde.
Welche Teamtermine gibt es bei euch, mit denen du zu tun hast?
Unsere Teams haben unterschiedliche Vorgehensmodelle – sie arbeiten entweder nach Scrum oder Kanban. Und da gibt es bestimmte Regeltermine und wir haben hier bei uns im Unternehmen die Regel, dass diese Termine öffentliche Termine sind – außer natürlich die Retrospektive, das ist klar. Das bedeutet aber, ich habe die Erlaubnis in Dailies mitzukommen oder auch in Planning Termine. Im Review bin ich sowieso immer mit dabei, da habe ich ein ureigenes Interesse an den Teams und ihren Ergebnissen.
Aber um weiterhin eng an den Leuten aus meinem Team und vor allen Dingen auch an den Themen und auch an der Teamdynamik dranzubleiben, versuche ich so viele Termine wie möglich aus den Regelterminen zu nutzen um mir ein Bild zu machen. Denn die Teams sitzen zusammen in Büros, da bin ich nicht mit dabei. Und die Teams arbeiten operativ an Themen und entscheiden auch selber, wie sie Dinge umsetzen. Und ich bin auch nicht in Diskussionen dabei, in denen sich Softwareentwickler und Analysten um technische Lösungen streiten. Ich bin nicht in Terminen dabei wo Anforderungsmanagement betrieben wird.
Damit bekommst du also einen Ausschnitt mit.
Ja. Um herauszufinden, wie es meinen Teams und den einzelnen Leuten darin geht, da muss ich halt andere Wege finden. Und das ist nicht immer einfach, je nachdem, wie viele andere Themen man dann vielleicht auch noch hat. Das ist schon manchmal ein Konflikt.
Eine meiner wichtigsten Aufgaben ist ja, wenn man so will „Netzwerken“ oder einfach „in Kontakt bleiben“. Wir haben mit der Produktorganisation eine Organisation, die eben nicht aufbauorganisatorisch funktioniert, sondern ablauforganisatorisch. Das bedeutet wir haben ein Team hier bei uns, was dieses ganze Thema Produktorga gestaltet, organisiert, reflektiert, verändert, kommuniziert, informiert.
Zu dem du von Anfang an gehörst.
Ja genau. Mittlerweile sind wir zu fünft. Wir setzen uns jeden morgen um viertel vor neun in dieser Runde zusammen und informieren uns gegenseitig über Themen, die unsere Produktorganisation betrifft. Und in der Regel ist es eben nicht so, dass man nur eine Viertelstunde spricht, sondern man nimmt Themen mit, man nimmt Aufgaben mit, man macht sich Gedanken zu Dingen, die besprochen worden sind. Und daraus ergibt sich aus meiner Sicht eine Hauptaufgabe eines Servant Leaders: Nämlich Rahmenbedingungen zu definieren und für eine bestimmte Strategie oder für ein bestimmtes Ziel zu stehen und das seinen Leuten und seinen Teams auch nachhaltig verständlich zu machen.
Und das machst du nicht allein.
Es ist halt sehr wichtig das mit anderen Menschen zusammen zu tun, die auch ähnliche Aufgaben und dieselben Ziele haben. Das kann man nicht alleine tun.
Ich kenne kein Konstrukt, wo ein Servant Leader irgendetwas alleine macht. Nicht nur meine Leute arbeiten und bringen die bestmögliche Leistung in einem Team, sondern auch ich bringe meine beste Leistung wenn ich mit anderen Leuten in einem Team zusammenarbeite.
Und auch ich habe Schwächen oder es fehlen mir bestimmte Skills. Und auf anderen Seite habe ich vielleicht in bestimmten Bereichen Kompetenzen, die vielleicht von anderer Seite nicht da sind, also das ist halt etwas wo man auf jeden fall sehr stark in so einer Matrixorganisation unterwegs ist.
Kannst du für den uneingeweihten Leser bitte noch einmal sagen, warum es für dich und deine Aufgabe inhaltlich so wichtig ist, dranzubleiben und zum Beispiel auch an den Reviews teilzunehmen?
Wir haben ja crossfunktionale Teams, was bedeutet dass in unserem Produktentwicklungsteams auch noch Leute drin sind, die eine sehr starke „Quality Assurance“-Kompetenz mitbringen. Wir haben Leute, die viel Knowhow in Infrastrukturthemen mitbringen – das sind Themen die bei uns in einem Team namens Platform Engineering vertreten sind. Wir haben aber auch einen Scrum Master dabei und natürlich den Product Owner. Und wir haben Leute, die eine ganz hohe UX und UI-Kompetenz haben. Die formen bei uns alle ein crossfunktionales Team. Und bei den Kollegen, die aus der Softwareentwicklung und -analyse kommen, bin ich dafür verantwortlich dass das jeweilige Team mit genau den richtigen Leuten praktisch ausgestattet ist. Und da geht es eben nicht nur darum dass sie die richtige technische Kompetenz mitbringen, sondern darum, verschiedene Senioritätslevel in einem Team zu haben. Ich muss gucken, dass diese Leute auch mit den anderen Rollen, die ich gerade beschrieben habe, persönlich und menschlich gut interagieren. Ich muss darauf schauen, ob es vielleicht mal eine gute Idee ist, einen Wechsel innerhalb dieser Teams herbeizuführen, so dass ein Softwareentwickler vielleicht auch für seine persönliche Entwicklung in ein anderes Team wechselt. Oder wenn unser Produktmanagement fürs nächste Jahr einen anderen Schwerpunkt setzt, überlegen: Passt dann eigentlich a) der Teamschnitt noch und b) passen dann die Leute, die in diesen Teams sind?
Die Weiterentwicklung der Leute liegt auch in deiner Verantwortung.
Ja, die persönliche Entwicklung. Da bin ich sehr eng natürlich mit den mit den einzelnen Leuten im Gespräch. Wir haben zum Beispiel Leute, die neu zu uns kommen und als „Junior“ einsteigen. Und welche, die als „Medior“ zu uns kommen wo ich dann sage, okay, find ich prima, denn wir wollen ja auch eine gewisse Konstanz in den Teams haben. Dass die mal so ein, zwei Jahre in einem Team drin sind, ist super – aber dann würde ich mit ihnen gerne darauf gucken, wo sie vielleicht ihre eigene Kompetenzen auch erweitern möchten oder ich auch den Bedarf aus Unternehmenssicht sehe, dass wir vielleicht den ein- oder anderen in etwas andere Richtung die Möglichkeit geben wollen sich zu entwickeln. Damit meine ich jetzt aber nicht, dass ich hergehe und sage „Du gehst jetzt da hin!“, sondern das will ich mit den Leuten zusammen machen. Aber das heißt dass halt neben dem Thema Teamgestaltung, Team-Ausstattung, Team Performance die persönliche Mitarbeiterentwicklung einen großen Schwerpunkt bildet.
Und auch dabei bewege ich mich nicht im luftleeren Raum: Ich habe andere Führungskräfte – andere Servant Leader – mit denen ich in die Diskussion gehe, wenn es beispielsweise darum geht ein Team auszustatten. Da sind unsere ScrumMaster ein wichtiger Gesprächspartner. Aber auch mit dem Teamleiter, der für die Scrum Master verantwortlich ist, oder dem Teamleiter der Product Owner und auch die anderen Rollen, die ich gerade genannt habe. Das ist auch etwas, das kann ich gar nicht alleine machen, denn ich muss ja wissen, ob ich zum Beispiel einen Junior PO oder einen Senior Scrum Master habe.
Woran machst du dann fest, ob du jetzt ein optimales Team zusammengesetzt hast? Gibt es eine Art Messgröße, an der du das erkennst?
Also zum einen ist es natürlich einmal der Output, den das Team generiert und der ja auch Gegenstand der Reviews ist. Wo ich halt aus fachlich-technischer Sicht auch weiterhin ganz gut auch beurteilen kann ob das Ergebnis, das dieses Team erzielt, funktioniert.
Ich bin auch in anderen Terminen dabei, also Planning oder Refinement – das sind klassischerweise durchaus Termine, die auch ein gewisses Potenzial für andere Meinungen und Diskussionen bieten. Hier bekomme ich sehr gut mit, wie die Teammitglieder miteinander agieren. Ich mache jetzt mal ein Worstcase-Szenario: Ein Thema, zu dem ich keine Detailkenntnisse, aber eine grobe Vorstellung habe wird im Planning besprochen – und ich bekomme dort mit, dass die Leute auf Grund von Juniorität oder Firmenzugehörigkeit eigentlich gar nicht wissen was sie mit diesem Thema machen sollen. Spätestens dann müsste ich mir Gedanken darüber machen. Und wenn ich das mehrfach mitbekomme, müsste ich mir Gedanken darüber machen, ob ich genug Erfahrungen, auch was Thalia-spezifische Fragen angeht, im Team habe.
Und so was stelle ich eben fest, wenn ich die Interaktion im Team mitbekomme aber natürlich auch in Gesprächen, die ich mit den Leuten führe. Dabei versuche ich, möglichst wenig generische Fragen nach dem Motto „Und, wie läuft das Team gerade?” zu stellen, sondern eher so “Wie geht’s dir in dem Team und was sind gerade deine Themen da?“. So kommt man sehr schnell ins Gespräch und kriegt ein Gefühl dafür.
Das macht für mich auch das Servant Leadership so interessant: Ich habe keine Checkliste, mit der ich das mache. Das braucht eher Erfahrung und Intuition.
Eine ganz wichtige Größe ist für mich auch die Zufriedenheit des Product Owners – aber nicht als objektiver Messwert, sondern eher als Indikator, wo ich dann ins Gespräch gehen würde.
Wie sieht denn generell deine Zusammenarbeit mit dem Product Owner und dem Scrum Master aus?
Wir haben hier bei Thalia ein Konstrukt, wo wir uns sehr bewusst Führungsaufgaben teilen. Das heißt Führungsaufgaben, die ich früher in dieser klassischen Team Manager-Rolle hatte: Nämlich sehr stark auf den Prozess zu gucken auf das Thema Effizienz zu schauen. Dass ist heute eine ureigene Aufgabe der Scrum Master und Agile Coaches. Die sind auch durch ihre Integration in so ein Produktteam viel näher dran; die bekommen die Leute in den Teams jeden Tag mit – ich nicht.
Und von daher ist gerade auch die Kommunikation in Interaktion mit dieser Rolle für mich total wichtig.
Wie macht ihr das; wie bringt ihr diese drei Perspektiven immer zusammen?
Wir sprechen ganz viel miteinander, in unseren Regelterminen und auch in Einzelgesprächen. Und ich habe die total komfortable Situation, dass das Büro der Scrum Master direkt bei mir gegenüber ist. Ich guck’ sozusagen den ganzen Tag in deren Büro (lacht). Aber es ist in der Tat so:
So wie wir das machen und so wie ich meine Rolle und die Tätigkeiten auch grade beschrieben habe, funktioniert das nur, weil wir diese Rolle der Scrum Master & Agile Coaches haben.
Hätten wir die nicht, würde das nicht funktionieren. Ein klassischer Teamleiter ist ja ganz klar verantwortlich für die Effizienz dessen was seine Leute tun. Und Effizienz ist als Messgröße in ganz vielen Unternehmen ja ganz klar definiert. Und das ist in unserem Konstrukt etwas, wo ich nur teilweise Einfluss drauf haben kann – denn was würde passieren wenn ich mich jetzt um dieses Thema hauptamtlich kümmern würde? Ich würde mit meiner disziplinarischen Rolle auch in das Team reingehen und wir hätten sofort eine ganz andere Dynamik!
Und unser Anspruch ist ja, dass wir selbst organisierte Teams mit einer ganz hohen Verantwortung haben. Und sobald ich hergehe und dort mit meiner disziplinarischen Führungsrolle in dieses Team mit reingehe und ja und die – ich nenn’s jetzt mal “aufmische” – dann besteht die Gefahr, dass die Selbstverantwortung und Selbstorganisation richtig Schaden nimmt. Und deshalb brauchen wir diese neutrale Rolle der Scrum Masters und Agile Coaches, die sozusagen Aufgaben der klassischen Teamleitung übernehmen und das Team gemeinsam voranbringen. Das sind diejenigen, die das Team immer wieder darauf schauen lassen, wie sie besser werden können, was sie verändern wollen. Ich bin diejenige, die meinen Leuten erklärt, wenn sich Rahmenbedingungen geändert haben, warum wir das machen, was das Ziel dahinter ist, warum wir vielleicht eine Regel kippen – es ist also meine Aufgabe, für die Akzeptanz und für das Verständnis zu sorgen, aber ein Scrum Master und Agile Coach arbeiten zusammen mit dem Team daran, diese Regeln wirklich ins in die Praxis zu bringen.
Du hast vorhin erwähnt, dass du dich ganz bewusst aus der Retrospektive heraus hältst. Kannst du das noch ein bisschen erklären?
Ja, unbedingt. Dass wir im engen Austausch mit den Scrum Mastern und Agile Coaches sind, bedeutet nicht, dass ich in diesen Gesprächen mitbekomme was in den Retrospektiven passiert . Das ist ein absoluter Schutzraum und ich bekomme nur Themen mit, bei denen der Scrum Master explizit mit dem Team vereinbart hat, sie mit mir zu besprechen. Und das müssen dann auch alle erstmal abnicken. Da geht es dann aber hauptsächlich um die sogenannten Impediments, wie es ja so klassisch im Scrum Kontext heißt. Also Dinge, die weder das Team noch der Scrum Master und der PO lösen können. Das können ganz einfache Sachen sein, wie zum Beispiel „Wir brauchen eine Monitorwand, weil wir uns jetzt überlegt haben, noch viel mehr KPIs zu tracken und an die Wand zu werfen.“. Aber manchmal eben auch Konflikte, die sich im Team nicht lösen ließen und wo ich in meiner Rolle als Teamleiter dazu gebeten werde. Also die Bandbreite ist da total groß und deshalb ist auch häufig sowohl mein Tag als auch meine Woche zu einem großen Teil überhaupt nicht planbar. Weil ich gar nicht weiß was passiert und wo meine Hilfe an manchen Stellen einfach auch notwendig ist.
Du hast quasi kein richtiges Tagesgeschäft?
Genau. Also ‘ne super schlechte Idee wäre, wenn ich meinen Tag von morgens bis abends mit Terminen zu pflastern würde und eben nicht die Zeit hätte, für meine Leute da zu sein.
Und es passiert einfach auch regelmäßig, dass einfach Leute bei mir stehen – aus meinem Team oder aus anderen Teilen der Organisation – die einfach kurz mit mir mal Dinge durchsprechen wollen. Und daran, dass das noch ein bisschen besser wird, ich also als Servant Leader ausreichend erreichbar bin, arbeite ich. Dass ich eben nicht dauernd im Termin verschwunden bin.
Also genau umgedreht zur Führungsrolle in vielen klassischen Kontexten? Nicht du bist die, die verteilt und dann weg ist und wo die Leute immer für deine Rückfragen da sind, sondern andersherum?
Ja, exakt! Ich bin nicht die, die voran läuft und alle hinter mir her, sondern ich gebe halt in vielen verschiedenen Bereichen den Rahmen für meine Leute und für die Teams – so dass sie in Ruhe ihren Job machen können.
Du hast vorhin auch gesagt, dass du ja auch für die persönliche Weiterentwicklung der Leute mitverantwortlich bist. Jetzt ist es ja bei klassischen Führungskräften oft so, dass sie damit automatisch auch eine Bewertungsfunktion haben – wie ist es bei dir?
Ja, das ist ein Thema, was mich extrem umtreibt und wo ich auch immer total froh bin, wenn ich zum Beispiel mal ein gutes Buch darüber lese oder bei einer Konferenz einen Vortrag höre oder so, weil das ist in der Tat für mich ein total herausforderndes Thema. Der Begriff „Team“ hat in unserer Organisation eine sehr zentrale Bedeutung: Wir konzentrieren uns sehr stark auf den Teambegriff und bewerten sehr häufig den Output, den wir für den Kunden und den Rest der Organisation generieren. Dabei geht es erst einmal um die Teamleistung. Das heißt, die individuelle Leistung eines Einzelnen in diesem Team zu beurteilen und zu bewerten ist total schwierig. Auch deshalb, weil auch die Leute selbst mittlerweile sehr stark diesen Teamgedanken verinnerlicht haben. Ich mach’ mal ein Beispiel: Wenn wir in Reviews drin sind, wo das Team sein Ergebnis beschreibt, hörst du ganz selten die Formulierung „ich habe gemacht“. Es ist immer eher ein „Wir haben gemacht.“. Das ist total großartig für das Unternehmen, und für das was wir tun wollen – aber natürlich extrem schwer herauszufinden, was ein einzelner Mitarbeiter in diesem Team halt bewirkt hat. Für die persönliche Weiterentwicklung wäre das aber relevant.
Aber auch die Gehaltsfrage gehört dazu; das ist ein Thema, was mir als klassischer Führungskraft obliegt: Nämlich eine Einschätzung darüber zu treffen, wenn Kollegen und Kolleginnen jetzt auf mich zu kommen und über ihre Gehaltsentwicklung sprechen wollen – woran messe ich das denn jetzt? Denn wir haben hier ja eigentlich die Teams und dementsprechend den Teamerfolg – auch mal den Team-Misserfolg – und auch daraus ergibt sich wieder die Notwendigkeit, über fachliche Weiterentwicklung, Senioritätslevel und eben auch Gehalt nachzudenken. Dafür haben wir ja im Zuge der Produktorga ein Senioritätslevel-Modell gebaut, das die Junior-, Medior- und Senior-Level beschreibt. Und das fußt sehr stark auf den agilen Werten und Prinzipien, die wir hier bei uns auch leben. Dazu stellen wir sehr stark in den Fokus, was der oder die Einzelne zum Teamerfolg beiträgt.
Woran machst du das fest?
Ich schaue mir zum Beispiel an, was die Person in den letzten Monaten im bereich Know how Transfer gemacht hat. Also ist das jemand, der offenbar innerhalb seines Teams einen totalen Blick dafür hat, Wissens-Inseln zu vermeiden? Ist es jemand, der auch nicht nur auf sein eigenes Team guckt, sondern auf unsere Produktorganisation als Ganzes?
Wie kann man sich das praktisch vorstellen?
Wir haben zum Beispiel ein Format, das nennt sich bei uns DevBoard. Dort können Leute Vorträge halten für unsere Softwareentwickler und Analysten. Und wir haben ein Tech Blog im Netz, wo jemand einen Artikel schreiben kann. Wir haben weitere Möglichkeiten, wo wir in kleineren oder größeren Runden oder Communities dieses Wissen, was in einem Team entsteht, auch unserer Organisation zur Verfügung stellen. Und das ist zum Beispiel für mich eine individuelle Leitung von jemandem: Darauf zu gucken und sich dafür einzusetzen, dass das passiert. Auch wenn es etwas ist, was im Team entstanden ist.
Und so versuche ich sehr stark, den Teamgedanken zu nutzen, um individuelle Erfolge zu sehen.
Das heißt, während in der klassischen Herangehensweise eine Führungskraft individuelle Ziele aufstellt und deren Erreichung misst und verfolgt, fokussierst du dich auf den persönlichen Beitrag zum größeren Ganzen?
Genau. Ich mach’ noch ein anderes, ein gegenteiliges Beispiel: Wenn ich ins Gespräch komme mit jemandem, der mir sagt „Ich habe eine neue Technologie ausprobiert und die funktioniert auch total gut und damit konnten wir bei uns im Team jetzt auch ein Problem lösen“ und dann kommen wir ins Gespräch… und ich frage dann, was die anderen im Team dazu sagen und ich stelle fest, die wissen gar nichts davon – das ist für mich so ein Punkt, wo ich total aufmerksam werde und genau in diesem Moment mit dem oder der Kollegin reingehen würde. Meine Erwartungshaltung ist dann, dass nach dem ersten Experimentieren, also in dem Moment wo es für den Teamerfolg wichtig wird, das Wissen auch geteilt wird.
Ich finde das sehr einleuchtend, du belohnst damit also keine Koryphäe oder das Befolgen so altmodischer Karrieretipps à la “Machen sie sich unentbehrlich”.
Genau, wenn ich mir eine bestimmte Entwicklung wünsche, dann muss halt klar sein wofür werde ich belohnt und wofür nicht (Und mit Belohnung können ganz viele Dinge gemeint sein, aber es ist ein guter Begriff.). Und es ist meine Aufgabe, das den Leuten transparent zu machen. Dass meine Erwartungshaltung eben nicht singuläre Erfolge sind. Die Leute bei mir im Team sollen wissen wofür ich stehe und was mir wichtig ist.
Und ich muss natürlich auch darauf gucken dass das, was mir wichtig ist, bei uns auch ins große Ganze passt – das ist dann wieder eine andere Aufgabe.
Kannst du dir vorstellen dass es bestimmte Führungspersönlichkeiten leichter oder schwerer haben mit einer solchen Rolle, wie du sie jetzt hast?
Also, was glaube ich echt hilft ist wenn man.. – das hört sich jetzt sehr platt an – wenn man Menschen mag. Denn die Aufgabe, die ich habe, hat unglaublich viel damit zu tun dass man sich sehr viel mit den Menschen im Einzelnen und halt im Team, in der Teamzusammensetzung beschäftigt. Und ich finde, dass man durchaus auch mit einer gewissen Empathie an Themen rangehen muss. Viel von dem, was wir tun hat mit Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen zu tun – und ich glaube, das nachempfinden zu können, was da passiert was, ist enorm wichtig. Sonst kann ich auch zum Beispiel nicht helfen, Konflikte zu entschärfen.
Als zweiten wichtigen Punkt sehe ich das Thema: Verantwortung abgeben können. Am Ende wird ja auch mein Erfolg am Erfolg meiner Teams gemessen. Da tue ich einfach sehr gut daran, mich selber an vielen Stellen stark zurückzunehmen bei Themen, die bei meinem Team sehr gut aufgehoben sind. Die machen das schon, denn das Verrückte ist doch: Ich habe ja dafür gesorgt, dass die aus meiner Sicht richtigen Leute an den richtigen Stellen sind. Und wenn ich das so entscheide, dann muss ich zwangsläufig das Vertrauen und Zutrauen in die Leute haben, dass die ihren Job einfach richtig gut machen.
Was würdest du Leuten raten, die einen solchen Rollenwechsel vor sich haben – und die vielleicht keinen so gleitenden Übergang erwarten können?
Der für mich allerwichtigste Punkt ist, Transparenz im Team darüber zu schaffen, also zu sagen “Hörzu, wir machen jetzt gerade was anderes und ich selber bin mir meiner Rolle noch gar nicht 100% klar und ich weiß eigentlich auch noch gar nicht was das für mich bedeutet. Aber ich verspreche euch dass ich mich ganz intensiv damit beschäftige und das auch immer wieder reflektiere. Aber es kann sein, dass ich versehentlich mal in meine alten Rollenmuster rutsche… Ich sage euch jetzt schon mal, dass ich das nicht extra tue und ich auf euer Feedback angewiesen bin.“ Ungefähr so. Also ganz, ganz viel über das Thema Offenheit und Feedback. Ich bin immer wieder bei den agilen Werten.
Das klingt jetzt für mich erstmal sehr entlastend: Einfach mit der eigenen Unsicherheit offen umzugehen und anzubieten, darüber im Gespräch zu bleiben. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch Führungskräfte gibt, denen genau das Unwohlsein macht, die vielleicht fürchten, an Autorität einzubüßen. Es gibt ja auch Leute, deren Erfolg lange daraus resultierte, andere Perspektiven möglichst auszublenden.
Absolut – und das hat ja auch oft mit Fachlichkeit zu tun: Wenn ich auf meine vorherige Teammanager-Rolle gucke, da hatte ich ein sehr großes fachliches Know-how über die Domäne. Das ist natürlich etwas, von dem man sehr gut auch zehrt. Wenn man dann in diese neue Servant Leader Rolle reingeht, verliert dieses Domänenwissen allmählich. Und auch damit muss erstmal klar kommen.
Mein Rat wäre dann, in kleinen Schritten zu beginnen. Zum Beispiel, indem man sich ein Thema rauspickt, wo man bisher immer einen festen Teil hat. Nach dem Motto “Ich war immer derjenige, der den Termin mit unseren Stakeholdern gemacht hat. Das würde ich jetzt gern mal an euch abgeben. Und ich verspreche, mich wirklich rauszuhalten.“ und diese Verantwortung dann abgeben.
Klingt wirklich einfach. Hast du noch weitere Tipps?
Ja, eine Sache, da habe ich auch die ersten Monate immer wieder mit gekämpft: Wenn es Situationen gibt wo man das Gefühl bekommt: „Woah, ich habe so das Gefühl, das läuft gerade nicht so gut.. das geht schief..“ – Erstmal ruhig bleiben, nicht in die alten Muster reinspringen, sondern: Beobachten! Erstmal jemanden aus dem Team befragen. Also nicht direkt mit einem Führungsanspruch in das Thema reingehen nach dem Motto „So, jetzt komme ich und jetzt mache ich das mal, denn es läuft gerade nicht so gut.“ Das kostet die ein- oder andere schlaflose Minute, aber da muss man durch. Und dass dadurch nicht gleich ein sechsstelliger Verlust droht, das kann man als Führungskraft , die zu dem Zeitpunkt noch ein recht großes Domänen-Knowhow hat, ganz gut abschätzen.
Hast du dafür mal ein Beispiel?
Also, ich bin ja mit meinen Teams in erster Linie für bestimmte Prozesse bei uns im Webshop verantwortlich. Und wenn wir mal Störungen im Webshop haben, bekomme ich das über unseren Mailverteiler mit. Und in den ersten Monaten bei solchen Störungsmeldungen ruhig an meinem Schreibtisch sitzen zu bleiben und nicht in das Team zu laufen, ohne zu fragen was los ist und wie ich helfen kann, das hat mich echt Kraft gekostet. Heute, wenn diese Mails kommen, nehme sie wahr, aber arbeite an meinen Themen weiter, weil ich weiß dass Störung in guten Händen ist. Irgendwann kommt dann die Entstörungsmail, dann interessiere ich mich einfach dafür, wodurch es entstanden ist. Ich gehe dann auch mal ins Team mal rein, aber nicht mit einem Kontroll-Ansatz, sondern aus Interesse, auch an dem Stress den sie hatten.
Denkst du, dein Team merkt den Unterschied?
Naja, ich versuche schon authentisch zu sein. Also, ich hoffe es. Wahrscheinlich müsstest du sie direkt fragen.
Gute Idee, vielleicht sollte ich das wirklich. Danke, Claudia!
Wie sind eure Erfahrungen mit den verschiedenen Rollen innerhalb agiler Organisationen? Was funktioniert bei euch, was nicht? Und was sollte ich Claudias Mitarbeiter noch fragen? Schreibt es mir gern in die Kommentare!