Anke sackte immer tiefer in ihren Konferenzstuhl. Wann hatte dieser JourFixe mit Jochen eigentlich begonnen? Sie saßen schon seit Stunden hier, ihr Magen knurrte und im oberen Rücken breitete sich eine eigentümliche Steifigkeit aus. Doch sie hatte sich vorgenommen, für ihre Mitarbeiter da zu sein. Und das galt auch für Jochen. Der schien ihr Unbehagen nicht zu bemerken, während er sich in Rage redete: Von den irre langen Entscheidungswegen, die es für ihn unmöglich machten, seine Projekte termingerecht fertigzubringen. Von dem „völlig bescheuerten“ SAP-Modul und dem Ärger mit dem Ticketsystem.
Anke nahm einen tiefen Atemzug und leitete dann eine ganze Fragenbatterie mit folgenden Worten ein: “Jochen, ich möchte dir jetzt eine ungewöhnliche Frage stellen. Sie mag dir erstmal merkwürdig erscheinen, weil sie ein wenig Fantasie erfordert… Angenommen, während Du heute Nacht schläfst und das ganze Haus still ist, geschieht ein Wunder. Und dieses Wunder bewirkt, dass das Problem, das Dich hierher geführt hat, gelöst ist. Weil Du jedoch schläfst, weißt Du nicht, dass das Wunder geschehen ist. Wenn Du nun morgen früh aufwachst, woran wirst Du merken, dass ein Wunder geschehen und Dein Problem gelöst ist? Was wird anders sein? Woran werden es andere Menschen merken, ohne dass Du es ihnen sagst?“
Lösungsfokussierung als Coachingmethode
Was Anke hier probiert hat, war die sogenannte “Wunderfrage” aus dem Repertoire des lösungsorientierten Kurzzeitcoachings. Lösungsfokussierung ist ein Coachingansatz von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg und hat seinen Ursprung in der Psychotherapie. In den 1980er Jahren machten die beiden im Milwaukee Brief Family Therapy Center die Erfahrung, wie hartnäckig Klienten in ihren Problembeschreibungen verharren können – und entdeckten bei ihren Experimenten, wie einfach plötzlich alles wurde, als sie den Fokus auf das lenkten, was bereits gut funktionierte. Nach und nach arbeiteten sie heraus, welche Denkweisen ihren Klienten am ehesten halfen, die eigenen Stärken zu entdecken und Lösungsansätze zu entwickeln. Sie konnten in detaillierten Langzeitstudien die Wirksamkeit ihrer Methode im Kontext psychischer Erkrankungen nachweisen – von Suchterkrankungen über depressive Episoden bis hin zu Traumafolgestörungen. Später wurde der Ansatz auf andere Kontexte übertragen und es entwickelte sich das lösungsfokussierte Kurzzeitcoaching. So hilft dieser Ansatz auch im beruflichen Kontext, die Problemtrance zu verlassen und stattdessen den Blick auf den gewünschten Zielzustand zu lenken.
De Shazer und Kolleg*innen haben für die erfolgreiche Arbeit mit dem Ansatz ein paar wichtige Prinzipien aufgestellt:
- “Was nicht kaputt ist, muss man auch nicht reparieren”.
Dieses Prinzip betont die sozial-konstruktivistische Weltsicht, die der Methode zu Grunde liegt: Jede und jeder konstruiert sich die eigene Welt auf die ganz eigene Weise. Es kommt deshalb ausschließlich auf die Sicht des Klienten an: Wo er oder sie kein Problem sieht, gibt es jetzt gerade auch nichts zu bearbeiten. - “Das, was funktioniert, sollte man häufiger tun.”
In der Regel gab es schon irgendwelche Lösungsversuche, und manche davon haben auch (teilweise) funktioniert. Diese gilt es zu suchen und zu verstärken. - “Wenn etwas nicht funktioniert, sollte man etwas anderes tun.”
Klingt logisch, oder? Es sollte also vermieden werden, in den eigenen Mustern zu bleiben und immer nur “Mehr desselben” zu produzieren… - “Kleine Schritte können zu großen Veränderungen führen.”
Es muss nicht sofort der große Wurf sein – das hindert uns oft sogar, ins Tun zu kommen. Das Ziel ist die 10 und ihr steht auf der 3? Frage also danach, wie ihr auf eine 4 kommen könnt. - “Problem-Welt und Lösungs-Welt gehören nicht zwangsläufig zusammen.”
Um Probleme zu analysieren, brauchen wir oft ein ganz anderes Vokabular und andere Methoden als für die Lösung. Gerade im Team wecken Problemanalysegespräche oft Rechtfertigungshaltungen, während die Beschäftigung mit der idealen Zukunft eine völlig andere Dynamik entfacht. Und, völlig verrückt: Manchmal kommen dabei die ursprünglichen Probleme gar nicht zur Sprache und wir finden trotzdem eine gute Lösung. - “Kein Problem besteht ohne Unterlass; es gibt immer Ausnahmen, die genutzt werden können.”
Und das bringt uns wieder zum zweiten Punkt: Wenn es ganz kurz mal besser lief – was war da anders? Können wir davon mehr machen?
Führungskräfte sind keine Coaches
Während Coachees sich in der Regel ihre Zielsetzung oder ihr Anliegen selbst bestimmen und sich ihre Coaches selbst aussuchen, gilt das für eine Führungsbeziehung natürlich nicht. Eine Führungskraft wird dafür bezahlt, die Organisationsziele zu erreichen – und die Mitarbeiter*innen dabei zu unterstützen, diese zu erreichen. Ein Coach ist “allparteilich”: Er oder sie unterstützt die Klientin dabei, ihre eigenen Ziele zu erreichen und muss sie nicht auf etwaige Konflikte mit den eigenen Zielen überprüfen. Auf dieser Basis ist es deshalb auch leichter, das Vorstellungsvermögen des Klienten etwas zu dehnen und gemeinsam nach vorhandenen Ressourcen zu suchen, der für die Problemlösung nützlich sein können.
Gehen Führungskräfte nun also mit den oben beschriebenen Prinzipien ans Werk, kann das schnell zu einer komischen Distanzierung führen: Ich als deine Führungskraft lasse dich gerade selbst erarbeiten, wie deine Lösung aussehen könnte, ich coache dich Stück für Stück dahin. Aus Mitarbeitersicht wirkt es dann oft so, als stünde die Chefin über den Dingen, wüsste schon die Antwort, aber verweigere sich der Zusammenarbeit. So macht sich schnell ein Gefühl der Bevormundung breit.
Was also beim Coaching funktioniert – nämlich die Haltung “Die Verantwortung liegt bei dir, ich helfe dir ‘nur’ herauszufinden, welche Ressourcen du schon hast und nutzen kannst.” – lassen Führungskräfte besser sein, denn: Sie haben immer eine Mitverantwortung. Wenn du Sorge hast, dass dein Mitarbeiter sich also bevormundet fühlt ist es besser, vom Du aufs Wir umzuschwenken: Wir sitzen in einem Boot. Lass uns mal überlegen. Welchen kleinen ersten Schritt könnten wir unternehmen?
Lösungsfokussierung heißt nicht “Sch*** auf’s Problem, lass uns über Maßnahmen zur Lösung nachdenken”
“Komm mir nicht mit Problemen, komm mir mit Lösungen!” haben sicher schon viele von ihrer Führungskraft gehört. Das ist mit diesem Ansatz keinesfalls gemeint! Es geht darum, den Zielzustand zu beschreiben, und das möglichst anschaulich und konkret. Das Verrückte ist: Viele Menschen tun sich leichter damit zu beschreiben, was sie NICHT mehr wollen, was NICHT funktioniert oder was schlecht läuft. Sich vorstellen, wie es stattdessen sein soll oder gar, wie es idealerweise aussähe, erfordert ein anderes Nachdenken.
Lösungsfokussierung heißt auch nicht “Zwang zum Positivismus”
Wenn jemand in Problembeschreibungen festzustecken scheint, kann das (nicht nur) Führungskräfte schnell zur Verzweiflung bringen. Man fühlt sich machtlos, möchte helfen, sieht vielleicht Ansatzpunkte, die das Gegenüber gerade nicht sehen kann. Und dann sieht man auch noch die eigene Zeit verrinnen. Trotzdem wäre Anke mit einem „Ja, das kann ich gut verstehen, Jochen. Lass uns jetzt trotzdem mal nur auf die CHANCEN gucken…“. vermutlich wenig erfolgreich. Reaktanz, also der innere Widerstand, der sich bei Menschen auftut, die durch eine von außen initiierte Veränderung ein Stück ihrer Freiheit einbüßen, wird nicht kleiner, wenn man nicht alles sagen darf – im Gegenteil. Es gibt verschiedene kommunikative Fettnäpfchen, die das Zeug haben die Reaktanz der Gesprächspartner noch zu steigern. Neben Bagetellisieren ist „immer schön positiv denken“ eine davon.
Lösungsfokussierung ist das intensive Beschäftigen mit Zielzuständen
Wie kann Anke es jetzt also anstellen, wenn sie nicht weiter mit Jochen im Problemmodus verharren, ihn aber trotzdem nicht abwürgen und infantilisieren will? Indem sie ihn mit seinen Problemen ernst nimmt. Und ihn dann ausgiebig zu seinem gewünschten Zielzustand befragt. Das kann zum Beispiel so aussehen:
- “Ja, das ist ärgerlich!” / “Da hast du Recht.” / “Ich sehe, dass du dich damit auskennst.” / “Du bringst gut auf den Punkt, wo es hakt.”
- “Was möchtest du denn stattdessen? Ich meine, ganz konkret?”
- “Lass uns bitte mal überlegen, wie es aussehen würde, wenn [die Entscheidungswege] richtig gut funktionieren.”
- “Was würde dir helfen …?” / “Was können wir heute schon tun, um uns dem gewünschten Zustand anzunähern?” / “Was bräuchtest du, um …?”
Lösungsfokussierung ist anstrengend
Die Gesprächstechnik ist kein Knopf, den wir einmal drücken, um dann sofort mit neuer Denkweise alle Probleme zu lösen. Du wirst vermutlich mehrere Anläufe brauchen, bis sich diese Art von Gesprächsführung nicht mehr gestelzt und gekünstelt anfühlt. Vermutlich brauchst du selbst erstmal eine ungefähre Vorstellung davon, mit welchen Antworten ihr arbeiten könnt. Wenn ich mit Leuten (ja, auch mit Führungskräften) das erste Mal Lösungsfokussierung übe, ist das für die Leute oft total ungewohnt. Die meisten sind es gewohnt, gründliche Ursachenanalysen zu betreiben und sagen dann auf die Frage, was sie stattdessen gerne hätten, Dinge wie “na dass das Problem eben weg ist” oder “na dass sich alle an den Prozess halten”. Frage ich dann weiter nach – zum Beispiel wie es aussähe, wenn der Prozess eingehalten würde oder wann er schonmal gut funktioniert hat – ernte ich manchmal Augenrollen oder Stöhnen. Es ist eben anstrengend!
Ab und zu passiert es auch, dass jemand dann von dem Versuch der konkreten Ziel-Zustands-Beschreibung abhaut und stattdessen Maßnahmen beschreibt: “Wir müssten den Ablauf nochmal für alle visualisieren und dann allen nochmal erklären…” heißt es dann zum Beispiel. Das sind dann Maßnahmen auf dem Weg zu einem unbestimmten Zielzustand – in diesem Fall sind sie eine Ausweichbewegung und ersetzen nicht die Klarheit, die es erst einmal braucht. Das ist derselbe Effekt, dem ich beim Formulieren guter Key Results immer wieder begegne: Leute tun sich schwer mit Zustandsbeschreibungen, bis es einmal “Klick” gemacht hat und sie merken, wieviel Kraft klare Fokussierung freisetzt.
Lösungsfokussierung üben verändert einen
Nun war ich selber lange Meisterin der Problemtrance – und bin es manchmal immer noch. Deshalb weiß ich auch aus eigener Erfahrung: Wenn man als Führungskraft oder als Coach Anderen Antworten auf lösungsfokussierte Fragen entlockt, verändert das auch das eigene Denken. Das klingt jetzt vielleicht trivial. Aber probiere es gern mal aus und du wirst merken, dass es nur funktioniert, wenn du selbst immer öfter in positiven Zielzuständen denkst – im Beruflichen wie im Privaten. Das hast du längst? Wie läuft’s? Schreib mir gern einen Kommentar!